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Titel
The Corrupter of Boys. Sodomy, Scandal, and the Medieval Clergy


Autor(en)
Elliott, Dyan
Erschienen
Philadelphia 2020: University of Pennsylvania Press
Anzahl Seiten
381 S.
von
Giulia Marotta, Newman Studies, National Institute for Newman Studies

Die Rolle, die der Zölibat in der gegenwärtigen sexuellen Missbrauchskrise innerhalb der katholischen Kirche gespielt hat, ist ein entscheidendes und umstrittenes Element in der theologischen und historischen Literatur. Dyan Elliotts The Corrupter of Boys liefert einen originellen Beitrag zu dieser Debatte, indem es ans Licht bringt, wie die Konstruktion und Idealisierung des geistlichen Zölibats im Mittelalter zu einer immer größ eren Abneigung gegen öffentliche Skandale und zur systematischen Verschleierung und Duldung der sexuellen Abweichung des Klerus führten. Die Monografie richtet sich an Spezialisten der mittelalterlichen und/oder neueren Geschichte sowie der Kirchengeschichte, wobei der von der Autorin gewählte Ansatz, welcher eine explizite Verbindung zur gegenwärtigen Situation herstellt, sie auch einer allgemeinen Leserschaft zugänglich macht.
Elliott stellt die Hypothese auf, dass es eine direkte Beziehung zwischen mittelalterlichen und zeitgenössischen Fällen von sexuellem Missbrauch durch Geistliche gibt. Das Ziel ihres Werkes ist es zu zeigen, dass der weit verbreitete sexuelle Missbrauch von Jungen im Mittelalter und in der Gegenwart das Ergebnis des Gebots des Zölibats einerseits und einer entschlossenen «Skandalvermeidungspolitik» andererseits war. Dementsprechend behauptet sie, dass die Krise, die die Kirche in den letzten Jahrzehnten so sehr zugesetzt hat, aus der Fortsetzung von Praktiken stammt, die bereits vor mehreren Jahrhunderten entstanden sind und sich verfestigt haben. Elliotts Argumentation basiert auf ihrer Interpretation von sehr unterschiedlichen Primärquellen, darunter Kirchenrecht, Konzilverhandlungen, Formelsammlungen für die päpstliche Pönitentiarie und andere von Theologen und Kirchenrechtlern verfassten normativen Texten.
Wegen des Mangels an offiziellen Quellen, die sich mit der sexuellen Abweichung des Klerus befassen, und wegen der Ungenauigkeit des vorhandenen Materials, konzentriert sich die Autorin im ersten Teil ihrer Studie nicht nur auf Texte, die das Thema des sexuellen Missbrauchs behandeln, sondern auch auf eine Vielzahl anderer Quellen, um ein vollständiges Bild des Kontextes zu zeichnen, der solche Missbräuche begünstigte. In den fünf Kapiteln dieses Abschnitts geht es um die zunehmende Verunglimpfung der Sexualität bei gleichzeitiger Verherrlichung der Tugend des Zölibats, des Weiteren um das Verbot, die Sünde der Sodomie auch nur zu benennen, um die Betrachtung von Jungen als Sexualobjekte und als zu bestrafende Verführer statt als Opfer (sie werden sogar mit den Sirenen verglichen, die Odysseus verführten, S. 172 u. 233), um die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, die den Klerus nach einem hierarchisch-monarchischen Modell reorganisierte basierend auf dem Zölibat und der ausgeprägten Trennung von den Laien, um die Maximierung der Gefahren von Skandalen, die die Reinheit des Klerus in Frage stellen könnten, sowie um die Betonung des Beichtgeheimnisses, das die Möglichkeiten, sexuelle Laster innerhalb der Kirche anzuprangern, stark einschränkte.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit exemplarischen Fällen im Hoch- und Spätmittelalter, in denen sexuelle Beziehungen zwischen einem älteren Mann und einem Jungen der Prüfung eines Tribunals unterzogen wurden. Jedes der vier Kapitel dieses Abschnitts behandelt ein Milieu, in dem sexueller Missbrauch eher vorkam: das Kloster, der Chor, die Schulen und der Bischofshof. Hier erörtert Elliott die konkreten Folgen der im ersten Teil beschriebenen Kontextfaktoren, die die Überzeugung verfestigten, dass es weniger sündhaft war, einen Akt wie Sodomie zu verbergen, als ihn öffentlich zu bekennen, was schließlich zur Konfiguration des Skandals als «eigenständige Sünde» (233 ff.) führte.
Angesichts des aktuellen Forschungsstandes zeichnet sich Elliotts Arbeit durch ihren kontinuistischen Ansatz aus, der darauf abzielt, im Mittelalter Präzedenzfälle für den Umgang der heutigen Kirche mit sexuellen Missbrauchssituationen zu identifizieren. In diesem Sinne eröffnet The Corrupter of Boys eine originelle Perspektive über die historische Tiefe der Problematik. Vor dem Hintergrund der breiteren wissenschaftlichen Debatte zu diesem und anderen Themen der Kirchengeschichte ist es jedoch fragwürdig, die Existenz Kontinuitätsmusters vom Mittelalter bis zur Gegenwart zu erkennen. Während, wie die Autorin anmerkt, «die Vergangenheit Licht auf die Gegenwart werfen kann», kann auch der Versuch, eine überzeitliche Abhängigkeit zwischen mittelalterlichen und zeitgenössischen Praktiken festzustellen, dazu führen, dass die historische und kulturelle Entstehung der kirchlichen Herangehensweise an Sexualität, Zölibat, Kindheit usw. vernachlässigt wird.
Gemessen an ihrem grundsätzlichen Zweck ist Elliotts Arbeit einschließlich der Auswahl und Deutung der Quellen wertvoll und anregend. Allerdings beschränkt sich ihre Zielsetzung auf die Identifizierung einer langjährigen aber auch generischen Tendenz der kirchlichen Hierarchie zur institutionellen Selbsterhaltung, die im Falle von sexuellem Missbrauch höher bewertet wurde als Gerechtigkeit, Ehrlichkeit sowie der Schutz potenzieller Opfer. Laut ihren eigenen Worten lässt sich eine Kontinuität im «unverantwortlichen Umgang» (2) und in einem vorwiegenden «Muster des Verschweigens und Verbietens» erkennen (3). Die Hypothese eines direkten Zusammenhangs zwischen der mittelalterlichen Entstehung des Phänomens und seiner gegenwärtigen Manifestation berücksichtigt jedoch nicht wichtige Veränderungen, die bestimmte Wendepunkte der Kirchengeschichte markieren und die sich auf Worte (z. B. ist «Sodomie» nicht mehr in Gebrauch, während das Wort «Missbrauch» zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts in offiziellen Dokumenten auftaucht), Begriffe (z. B. der Begriff der Kindheit, wobei selbst innerhalb des klerikalen Milieus, eventuell mit Ausnahme der Täter, Kinder nicht mehr als verführerische Wesen gesehen werden), und Praktiken (so hat man in der Vormoderne keine Veranlassung gesehen, Priester, die sich an Kindern vergangen hatten, zu versetzen, wie es in der Neuzeit üblich war) auswirkten. Obwohl der Wandel dieser Elemente weiterhin zu einer geheimen und eigennützigen Herangehensweise an das Problem führte, verhindern die Übergänge, welche er bezeugt, die Behauptung der Existenz eines ungebrochenen und konsequenten Musters. Darum wäre es für eine langfristige historische Erforschung sinnvoll, die Kirche als eine vollständig historische und kulturelle Institution zu betrachten und die Existenz einer dauerhaften Kontinuität in der Vorgehensweise bei sexuellem Missbrauch nicht lediglich aufgrund der Ähnlichkeit des Endergebnisses anzunehmen. Es wäre dann wichtig, sich mit den verschiedenen Wörtern, Begriffen und Praktiken auseinanderzusetzen, die im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch unterstützt und/oder gesteuert haben, ebenso wie mit der Frage, warum und wie sie sich gegenüber anderen Wörtern, Begriffen und Praktiken durchgesetzt haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass The Corrupter of Boys ein hervorragendes Nachschlagewerk für Historiker und Theologen darstellt, die sich mit klerikalem sexuellem Missbrauch befassen. Elliott zeigt dessen Verflechtung mit verschiedenen Aspekten der Organisation, Lehre und Funktionsweise der Kirche auf und macht damit deutlich, dass das Problem keineswegs neu ist. Andererseits spricht sie die zugrundeliegenden Komplexitäten des Phänomens, hauptsächlich dessen zeit und raumbedingte Ausprägungen, nicht detailliert genug an, um es dem Fachleser zu ermöglichen, die Gültigkeit ihrer Hintergrundannahme über eine transepochale Kontinuität zu bestätigen. Letztere bleibt eine interessante Arbeitshypothese, die durchaus bedeutsame unerforschte Fragen aufwirft, welche aber noch durch eine rigorose diachrone Analyse geprüft werden müssen.

Zitierweise:
Marotta, Giulia: Rezension zu: Elliott, Dyan: The Corrupter of Boys: Sodomy, Scandal, and the Medieval Clergy, Philadelphia 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 430-432. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>